Der KunstWandwerker
Über Walter Pilar
Die Rampe, Adalbert Stifter Institut Linz, 2010
Bekanntlich ist Walter Pilar ein detailversessener Beobachter. Nicht die geringste Kleinigkeit auf seinem Weg scheint dem Radar zu entgehen, das allerhand Seltsamkeiten aufspürt, um in der Registratur der Tagebücher als Notiz oder als Skizze festgehalten zu werden. Das Verfahren lässt an die schriftstellerische Technik Walter Benjamins denken, „keinen Gedanken inkognito passieren zu lassen, und das Notizbuch so streng zu führen wie die Behörde das Fremdenregister.“1 Nun ist im Falle Walter Pilars weniger von einer Technik oder von einer Methode zu sprechen, als von einer Obsession, die ihn treibt, Gesehenes, Erlebtes, Gelesenes, Gehörtes, Gerochenes, Gesprochenes, Aufgeschnapptes zu absorbieren, um es seinem dichterischen und zeichnerischen Privatkosmos einzuverleiben.
Der Künstler nennt sich selbst einen „Transformator“, der durchgeschleuste Eindrücke umwandelt in poetische Energie, in assoziative Gedankenflüsse, die samt vielerlei Treibgut in einem gemeinsamen Ziel münden: im höchst persönlichen Gewässer Walter Pilars, seinem „Lebenssee“. Für diesen Lebens-Seher ist die Wirklichkeit Knetmasse, ein Koordinatenkonstrukt, das auf groteske Ingredienzen hin untersucht und zu einer neuen Kunstwirklichkeit geformt wird – zu einer „skurrealen“ Schöpfung, wie das von ihm erfundene Konglomerat aus Realität, Skurrilität und Surrealität lautet. Sein Grundstoff „Realität“ ist zumeist wenig spektakulär, besteht oft nur aus zugefallenen Fundstücken, abgelauschten stereotypischen Gesprächsfetzen, Natureindrücken, kleinen Begebenheiten. Der Ausspruch „Wirklichkeit höhnte banal“ von Melchior Vischer drängt sich in den Sinn; für Walter Pilar sind es aber gerade jene gewöhnlichen, scheinbar unscheinbaren Komponenten, in denen er die bizarrsten Blüten findet, die sich zu Assoziationsketten winden und in originelle Mutationen verwandeln lassen. Epiphanien nennt der Künstler jene Blitze aus seinem Synapsengewitter, die wie Schlaglichter plötzlich aufleuchten, um sich mit anderen Erscheinungen zu einer neuen, „skurrealen“ Konstellation zu verbünden.
Literarische und grafische Produktion sind schwerlich voneinander zu trennen; sie entspringen dem selben Darstellungsantrieb und folgen gemeinsam den Pilar’schen Gesetzen. Wie in der Poesiemaschine kein Begriff in den Text gelangen darf, ohne zuvor analysiert, gewogen, umgedreht, zerstückelt zu werden, bis er gefälligst eine neue Identität, eine andere Bedeutung gewonnen oder in ungewohnten Kontext gestellt ist, werden die grafischen Motive ähnlichen Prozessen unterzogen, bis sie so weit „skurrealisiert“ sind, dass sie zur Schau gestellt werden oder als Illustration eines Textes fungieren dürfen. „Oft geht es auch um eine Scheiß-Beweisführung, sozusagen um die subjektive Objektivierung, dass so etwas Unglaubliches überhaupt möglich ist“, lautet dazu die Anmerkung Walter Pilars in einem Gespräch.
Die Symbiose von Sprache und Bild ist früh im Werk von Walter Pilar bemerkbar. In die späten siebziger Jahre fällt die Kulturrevolution der „Traunseher“ im Salzkammergut. Die Komplizenschaft zwischen Hans Kienesberger, Walter Pilar und Peter Putz tritt gegen den etablierten Kulturbetrieb auf, agiert mit der „Bildmanufaktur Traunsee“ und deren Organteilen „Postalische Galerie“ und der Zeitschrift „Der Traunseher“ gegen herkömmliche Kunstrituale und agitiert für neue Vermittlungsformen. Zur gleichen Zeit studiert Pilar Kunsterziehung an der Linzer Hochschule für Gestaltung („Kunsthochschui“) und besucht begeistert die Kurse für Kopf- und Aktzeichnen. Als „Jungdichter & Kulizeichner“ bezeichnet er sich selber nachträglich, er hätte „mit haderndem Kuli erzeichnete Landschaftsdetails verfremdet“, erzählt er, und: „Konturierend strichelte es auch aus mir, aber in dichten, ‚nevrosen’2 Strichbüscheln.“3
Wie gekonnt die Kugelschreiber-Strichbüschel organisiert sind, zeigt das Blatt aus dem Jahr 1981: Da Fiachtaua, ein am Traunsee gefürchteter Fallwind, der vom Westen her (aus der Viechtau) ‚den Traunsee zum Erblühen bringt’. Die dramatische, destabilisierte Situation eines in Seenot geratenen Segelbootes wird in verschiedenen simultanen Ansichten so drastisch dargestellt, dass man bei längerer Betrachtung des Liniengewirrs durchaus seh-krank werden könnte. Am Blattrand ist eine Erklärung mitgeliefert: „(Elemente von Mikro- und Makrowahrnehmung werden grafisch einbezogen) → chaotische Momente vor dem Untergang oder hoffnungslose Apathie?“
Im selben Jahr liegt dem „Traunseher“ ein Ausschneidebogen mit Motiven und neuen Anregungen für den Glöcklerlauf bei: Hyperglöckler (fliegende Projekte), Strichzeichnung (schwarz) und Bauplan eines Kastendrachens (rot), 2färbiger Offsetdruck auf flugtauglichem Druckträger (gelblades Leichtpapier), 43 x 62 cm. Die Befolgung der beigefügten Bastelanweisung ergibt tatsächlich einen flugtauglichen Kastendrachen, mit dem die grotesken Glöckler in den Himmel geschickt werden können; das KunstWandwerk wird ausnahmsweise zum KunstFlugwerk. In der Marginalie heißt es dazu: „Grafiken aus dem Ideenfluß des Salzkammergutschnürl-regenzeichners Walter Pilar, in denen er sich mit dem Brauch des Glöcklerlaufens (am Abend vor Dreikönig – 5. Jänner) auseinandergesetzt hat.“ Das Szenario stellt diverse Entwürfe für neuartige Kappenformen vor, die vermutlich bis heute keine Akzeptanz bei den Brauchtumsgruppen gefunden haben: Beispielsweise würden sie die „Rauhpräservativglöckler in dieser denkwürdigen Rauhnacht (Rauhreifler aus Kondomas)“ sicherlich als zu obszön empfinden. Wohingegen der über der Traunseelandschaft schwebende „(Super-) Überglöckler im Telemarkabflug“ im Hennenkostüm mit nachgeschlepptem „Sowjetdrachen“, – welchem seinerseits die „entführte Edelweißgruppe Kohlstatt“ anhängt –, schwierig umzusetzen wäre und dazu noch wegen der politisch totalitären Symbolik nicht ganz unproblematisch aufgefasst würde. Eine Erleichterung hätte die Motorisierung des Laufes „nach der industriellen Revolution“ sein können, was jedoch trotz des Riesengamsbart-Attributes als zu modernistisch aufgefasst und deshalb abzulehnen wäre.
Zum „hadernden Kuli“ gesellen sich fortan Ölkreiden, Kohle- und Fettstifte; die Arbeiten geraten malerischer, plastischer und farbiger. Das großformatige Blatt Dolden auf (unsichtbaren) Haut-&-Knochen von 1983 ist ein frühes Beispiel für die neue Art der Bildproduktion, mit der sich der Bildkünstler W. P. selbstbewusst eigen-mächtig neben den Sprachkünstler Pilar setzt. Text und Zeichnung sind zu einer überzeugenden Synthese vereint: Das Gedicht ist als kompositorische Kalligrafie in den Bildraum gesetzt, die Farbgrafik selbst weit davon entfernt, bloß illustrativ zu fungieren. Das Gedicht Dolden aus Haut & Knochen handelt von einem Kindesmörder namens Engelbert Haarmann, der nach begangener Untat aus Lambach abreist. Die dunkle Landschaft evoziert die Stimmung des Gedichtes: Nebelschwaden und Gesichte lassen sich im zaghaften Sonnenuntergang erahnen; in diese Düsternis sind scharfkantige, grell beleuchtete Felder geschnitten – möglicherweise Licht, das aus einem Fenster außerhalb des Bildrandes fällt; möglicherweise Gräber, aus denen giftige Herbstzeitlosen wie bleiche Kinderhände wachsen. Wer möchte, kann noch dazu den „goldgelben Hansl im pickigen Bierglas“ imaginieren.
In den achtziger Jahren entsteht eine bemerkenswerte Serie von Landschaftsporträts und „skurrealen“ Szenen in Mischtechniken. Dem ersten Augenschein bieten sich Idyllen in leuchtenden Farben; der zweite Blick hingegen bemerkt hineingesetzte Fremdkörper oder „Manierismen“, die nicht so recht in die Natur-Erhabenheit passen wollen. Laut eigener Aussage orientiert sich Walter Pilar zu dieser Zeit an Van Gogh, Kubin und Munch; er stellt sich die Frage, „wie kann man ‚landschafteln’ oder darstellen, was einem als etwas Besonderes erscheint“4 und ist viel zu sehr mit der Dramatisierung, der „theatralischen Übersteigerung“ der vor Augen liegenden Szenen ausgefüllt, als dadurch der Gefahr des „landschaftlichen Dilettierens“ zu erliegen. Manchmal sind es kleine irritierende Interventionen, wie eine Lichtexplosion in einer ruhigen Abendstimmung (Nacht in Steinkogl); oder grelle, künstliche Bestrahlung, das in die Nacht einer Aulandschaft fällt, in deren üppige, dschungelhaft anmutende Vegetation ein störender, metallisch-weißer Waggon ragt (Aunacht); oder eine Sonne, die in Form zweier Eheringe über dem Gebirge aufgeht (EHE erwache!). Daneben entstehen „skurreale“ Blätter wie jenes, das einen Fleischflieger darstellt, der eine fantastische Pflanzenformation bedroht; oder eine pornografisch wirkende, spritzfröhliche Szene aus Nachbars Garten, der in einer Vitrine ausgestellt ist (Bei Nachbars). In den meisten Fällen jedoch bilden alltägliche Lebenswelten und reale Umgebungen Ausgangspunkte, die sich unter Pilars Hand in sonderbare, poetische Kopfwelten verwandeln.
Besondere Fundgruben für Bild/Text-Konglomerate sind Pilars Tage-, Wander- und Reisenotizbücher, das riesige „Biografföweak“, worin seine Erlebnisse, Begegnungen und Landschaftseindrücke aufgeschrieben, aufgezeichnet, collagiert sind. Ein Schrank in seinem Studio ist voll mit Lebensprotokollen: eine pralle Futterstelle für das Lebenswerk.
Im Frühjahr 2003 wird die Insel Kreta bereist und bewandert, beschrieben und bezeichnet – in einem Zustand permanenter Hochstimmung, wie er berichtet. Innerhalb von vierzehn Tagen werden weit über hundert Seiten des Tagebuchs gefüllt. Die Impressionen fliegen ihm nur so zu, die Stifte scheinen in ständiger Bewegung zu sein. Hier lebt er die Intensität des Augenblicks und der Schaffensfreude aus, wie es nur in seltenen glücklichen Momenten passiert – selbst für einen Menschen wie Walter Pilar, der auch sonst wie unter Strom steht. Seine Produktivität ist wie eine Brandung und ein Feuer, wie er sie in einem Gedicht beschreibt:
„Unentwegt geht tag & nacht
eine brandung & ein brand
rauscht, rauchte auch an land“5
Gebäude, Landschaften, Menschentypen, Stimmungen: Jede Besonderheit oder Absonderlichkeit wird fixiert, neben Kleinigkeiten, Details, die er auf einem Dach findet, in einer Landschaftsfalte; selbst der Schnurrbart eines Kreters erweckt seine Neugier und evoziert Kommentar; selbst die „Verkrampfungen“ der Olivenbäume sind Anlass für mäandernde Assoziationen. Dazu dienen eingeklebte Postkarten, Fahrscheine und Eintrittskarten als Erinnerungshilfen. Insgesamt ein kräftig strömender Zufluss in Pilars Lebenssee.
Hatte er auf Kreta reichlich Zeit, seine Aufzeichnungen sorgsam und detailgenau auszuführen, kommt er während seiner Zugreisen durch Tschechien kaum nach, die Eindrücke der vorbei flitzenden Landschaft und die Geschehnisse im Waggon aufzuzeichnen, in Notizen festzuhalten. „Nicht hudeln, Walter!,“ muss er sich im Zaum halten: „selbst wenn dir jeder der einfach in die Erde gerammten Telegrafenmasten seit dem Fischteich von RYBNÍK windschiefer als der folgende vorkommt. Du kannst nicht alles Heranschnellende oder ruhig Bestehende als A l l e s niederschreiben & damit vereinfachen, was da in ihrer Vielfalt an dir tatsächlich vorüberzieht, was du im Waggon hörst & siehst, oder was du in dir empfindest; kurzum das Scheitern vor der Fülle eines Abspiels.“6
Während einer Reise nach Slowenien geraten Pilar und Freunde in ein Restaurant namens Triglav, dessen rustikal-obszöne Wandbemalung im Tagebuch beschrieben wird. In diesem Ambiente wird als Nachtisch eine mit Schokolade übergossene Palatschinke verzehrt, die den Künstler zum „ersten Omlettenbild der Welt, dem ‚Palatschinko’“ inspiriert. In das palatschinkenförmige Blatt (das von jedermann eidottergelb bemalt werden kann), ist die bewaldete Umgebung eingezeichnet. Diese Arbeit veranschaulicht besonders gut, wie sich unmittelbar alltägliche Begebenheiten und Eindrücke in ein Pilar'sches Kunstwerk verwandeln, dessen Qualität weit über das Skizzenhafte hinaus reicht.
Eine Sonderstellung in Walter Pilars bildnerischem Schaffen nehmen jene Zeichnungen ein, die in fremden Räumen entstanden sind, in denen sein unsteter Geist und sein Bewegungsdrang zur Ruhe und Isolation gezwungen ist: während eines längeren Aufenthaltes als Gastkünstler in Krumau und während einer kürzeren Logierung im Linzer Polizeigefängnis. Der Germanist Wolfgang Wiesmüller sieht das Erleben von Räumen bei Pilar „durch eine Dialektik von Innen und Außen bestimmt: Auf der einen Seite befindet sich das autobiographisch-poetische Ich immer wieder in geschlossenen Räumen, deren Atmosphäre zwischen Geborgenheit und Beklemmung changiert.“7 Für Walter Pilar selbst sind diese Zeichnungen auch Meditationsübungen, die er mit ungewohnter Langsamkeit und ohne „skurreale“ Ambition vollzieht. Schlichte, stille Dokumente der Kontemplation.
„Die Arbeit an den Bildern reißt mich jetzt ziemlich hinein“8, heißt es in einer Tagebucheintragung aus Krumau. Neben großformatigen, dichten Kohlezeichnungen entstehen in seinem „Apartmá“ penibel gezeichnete Fensterflächen, Raumausschnitte mit Fensterflügeln, in denen sich manchmal die Außenwelt oder die Innenwelt oder beides gleichzeitig spiegelt. In Fortführung seines Zitats schreibt Wiesmüller, dass das Pilar-Ich hier „zur künstlerischen Produktivität stimuliert [wird], und dennoch sucht es nicht nur in der Phantasie, sondern auch durch den realen Blick den Kontakt zur Außenwelt. […] An ihm kann der Künstler seinen voyeuristischen Gelüsten frönen".9 Walter Pilar registriert Lichtstimmungen von außen („am geballten Wolkengrau vom obersten Fensterfeld“) ebenso genau wie die Spiegelungen von Gegenständen im Raum beim Öffnen der Fensterflügel. Das Fenster-Motiv meldet sich oftmals in Pilars Werk: als Blickloch nach außen, als Rahmen für Sichtfelder ins „Naturtheater“, als Begrenzung und Anschauungsobjekt für Perspektive („fast schon penetrant“). „Das Fensterschauen ist ja eigentlich das elementarste Sehen. Eine geschlossene Wand wird durchbrochen, um in die Landschaft hinausschauen zu können […] und indem man nach draußen schaut, läuft da schon alles auf eine Tiefenperspektive zusammen. In jedem Fall auf einen Fluchtpunkt.“10 Dass der voyeuristische Aspekt ebenfalls nicht zu kurz kommt, illustriert eine Passage aus jener kurzen Erzählung, worin der im Bett dahindämmernde Autor zwei Mädchen unter seinem Fenster zufällig belauscht:
„Nach weniger als einer Minute fällt im ziegelroten Rundbogenfenster gegenüber / (wo ich beim morgendlichen Öffnen der Rahmenfenster penetrant regelmäßig zuerst jenes spitz aufgestellte Bügeleisen, sowie eine Bügelmaschine mit geplätteten Wäschestapeln im Halbdunkel noch ruhen sehe) / zum erstenmal das Tageslicht von der anderen, flußnäheren Seite ein. / Zuerst scheint sich ein einziges Konturengenudle näherzuwälzen, dann verdunkeln es zwei überlappte Mädchenschatten, bis die eine nach dem aufgestellten Bügeleisen, die andere nach ein paar weißen Wäschestücken vom ziemlich hohen Stapel greift. / & kaum getan, schon schrillen sie wieder am neuerlich aufgetanene Lichtspalt vorbei. / Der schließt sich & wieder herrscht das Zwielicht wie für ewige Zeiten: zugunsten eines textilen nature morte, eines Weißwäschestilllebens im Fensterausschnitt, worin seit heute zwar nicht ‚die Saliera’ (wie aus dem Kunsthistorischen in Wien), aber immerhin die Position eines spitz aufgestellten Bügeleisens fehlt.“11
In der Gefängniszelle hingegen ist das Sichtfeld nach außen auf eine gerasterte Oberlichte beschränkt, weshalb er seinen Aufenthaltsort „Cafe Sieb“ volksmündlich benennt. Die gebotenen optischen Sensationen sind Lichtfelder und Schattenwürfe, von denen sich einer wenigstens als „Lichthörner eines imaginären Steinbocks“ assoziieren lässt. Für die Darstellung des Interieurs genügen drei Zeichnungen: „( […] Die 3 Zellenwände nach 3 Himmelsrichtungen hin zu Tages- oder Nachtzeit mit realistischen Stilmitteln dargestellt!, allerdings einmal, nachtadäquat, deutlich verkürzt …)“.12 Auch in der Beschreibung ein Dokument der Isolation: „& ich höre vor innerer Anspannung überhaupt das Gras wachsen & schaue dabei auf den im Regen knisternden, dahinglitzernden Schotter vom großen Atriumdach (wenn ich mich auf den Tisch stelle).“13
Um sein Künstlerleben zu charakterisieren, benützt Walter Pilar gerne den Hermann Broch’schen Begriff des „Seins-Total-Seins“. Schreibend und zeichnend wird Welt einverleibt, geschildert und transformiert, obsessiv den Assoziationsketten entlang springend, die Kluft zwischen Leben und Kunst negierend. Der Künstler selbst schildert in einem Tagebuchblatt am besten sein Tun:
„Kunst, d.h. aus der ursprünglich schiefen Weltlagerung sich herausarbeiten, oft lächerlichen Schritts (wie mit grafischen Stückelschuhen), um weiterzukommen in eine wärmere Höhenlage. Was bedeutet: in Naßschnee treten, Spuren hinterlassen, aber fast rückblicklos wieder weiter, schneetreten, … & man merkt es vielleicht garnicht, daß man tatsächlich abwärts stückelt & hinter einem machen sie (wer konkret?) Abgüsse von den ausdrücklichen Spuren im Schnee, die jene Spurensicherer für die Seele des aufrecht Gehenden/Kämpfenden da vorne halten. Sammelt man (wer konkret?) Indizien für einen, irgendwann einsetzenden Fronleichnamsprozeß?“14
Walter Pilars künstlerische Spuren werden jedenfalls noch lange sichtbar bleiben, sie haben sich längst eingedrückt im Gedächtnis des Werkes, verflüssigt im unerschöpflichen Lebenssee.
1 Walter Benjamin: Einbahnstraße. Frankfurt a. M. 1982, S. 47.
2 Worbezogene inversive Aussprache des Wortes „nervös“ durch seinen griechischen Freund Stavros Balaouros (verstorben).
3 Walter Pilar: Zum Traunseher (2008). In: Der Traunseher (1978-’81) und die Bildmanufaktur Traunsee. Kienesberger – Pilar – Putz. Weitra: Bibliothek der Provinz 2008, S. 8-12, hier S. 9.
4 Walter Pilar: Zerstückeltes Lebenstheater. Interview mit Martin Sturm. In: LKW. Dinge zwischen Leben, Kunst & Werk. Klagenfurt: Ritter 1999, S. 122-131, hier S. 128f.
5 Walter Pilar: W. P. in Krumau & anderswo: Achsen des Augenblicks. Klagenfurt: Ritter 2007, S. 79.
6 Ebd., S. 26.
7 Wolfgang Wiesmüller: Vorwort. In: Pilar (Anm. 5), S. 7-11, hier S. 9.
8 Walter Pilar. Tagebucheintragung, 15. 12. ’04. In: Ders. (Anm. 5), S. 185.
9 Wiesmüller (Anm. 7), S. 9.
10 Pilar (Anm. 4), S. 130.
11 Pilar (Anm. 5), S. 158.
12 Ebd., S. 15.
13 Ebd.
14 Ebd., S. 183.